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"Mir ist der Lebenssinn
abhanden gekommen," sagte Mock. Mock war etwa 35 und
Österreicher.
"Hattest du denn einen?"
fagte Dewey.
"Einen Lebenssinn vielleicht
nicht; aber eine Vorstellung, ein Ziel immerhin, das meinen
Lebensmotor antrieb."
"Und was war das?"
"Na ja," sagte Mock,
"es hört sich vielleicht albern an; aber es war
eine Vorstellung, daß ich es einmal zu genug Geld bringe,
um mich richtig ausleben zu können, sexuell hauptsächlich."
"Das ist doch gar nicht
so unvernünftig," sagte Dewey, "wenn du es
zu genug Geld gebracht hast, kannst du hier in Manila alles
haben. Besonders viel Geld brauchst du da nicht einmal."
"Das ist es eben. Seit
ich alles haben kann, ist mir die Wunschvorstellung, das Ziel,
der Sinn verloren gegangen. Ich brauche keine Hofnung mehr,
weil ich alles, worauf ich gehofft habe, hier finde. Aber
ohne die Hoffnung fühle ich mich leer."
Es war niedriges Publikum an
den Fastfood-Buden. Abgewrackte Nutten hingen herum, und geizige
Freier - das war die richtige Kombination. Es gab auch ein
paar Prostituierte, die sich eigentlich für etwas anderes
hielten, für freigeistige Studentinnen mit internationaler
Bekanntschaft, oder für örtliche Mitglieder in der
Solidargemeinschaft der Traveller.
Schwule Opas trafen hier ihre
Strichjungen. Nebenerwerbshuren taten so, als würden
sie nur schnell eine Cola trinken. Die Menschheit ist nur
Abfall, ätsch. Hier machte man sich darüber wenigstens
keine Illusionen.
Mock sagte: "Die Frage
ist: gibt es einen Sinn im Leben oder nicht?
Dewey sagte: "Es gibt keinen,
aber man braucht auch keinen."
"Kann man ohne Sinn überhaupt
leben?" fragte Mock.
"Schwer - das ist die verlorene
Naivität."
"Und was kann man da machen?"
"Man kann sich ja einen
Lebenssinn ausdenken."
"Von dem man sowieso weiß,
daß es nur Einbildung ist? Das ist nichts für mich,"
sagte Mock.
"Oder konzentriere deine
Wünsche auf Frauen, die nicht so leicht zu haben sind.
Dann bist du beschäftigt," empfahl Dewey.
"Bin ich denn ein kleines
Kind, dem man etwas zu tun geben muß, damit es Ruhe
hält?"
"Ich kann auch keinen Sinn
hervorzaubern, wo es keinen gibt," sagte Dewey.
"Und was machst du?"
fragte Mock.
"In den Tag hineinleben.
Warten bis Bedürfnisse aufkommen."
"Reichlich wenig."
"Mehr kann man nicht machen."
"Wenn das alles ist, kann
man sich ja getrost umbringen."
"Tu's wenn du den Mut dazu
hast."
"Feig bin ich nicht."
"Ich schon," sagte
Dewey, "und du auch."
Mock ging, ohne sich zu verabschieden.
Dewey blieb noch eine Weile sitzen, unter diesem miesen Volk
an den Fastfood-Buden. Ein Strichjunge, vielleicht 13, machte
aufreizende Tanzbewegungen mit seinem kleinen Arsch.
Es standen einfache Tische um
die Buden herum. Die meisten wurden von Raymonds Fastfood
bewirtschaftet. An einem dieser Tische saß aufrecht
ein älterer Herr und trank Limonade. Eine von diesen
Weibern, die nicht mehr ganz klar im Kopf waren, eine ganz
schlampige in einem langen Rock, machte Anstalten mit dem
älteren Herren zu flirten. Sie wollte ihm schöne
Augen machen, aber es wurden nur große Augen daraus,
und dann zwinkerte sie ihn umständlich an. Als der ältere
Herr darauf nicht reagierte, schnitt sie ihm Grimassen.
Der ältere Herr tat, als
würde er dies nicht bemerken, und er schaute sehr absichtlich
an ihr vorbei. Dieses Verhalten ärgerte sie offenbar,
denn jetzt stellte sie sich direkt vor seinen Tisch - sie
baute sich förmlich auf und begann zu schimpfen.
Und dann merkte man, daß
sie nicht ganz klar im Kopf war. "Ihr glaubt wohl, weil
ihr Ausländer seid und Geld habt, könnt ihr euch
jedes Verhalten erlauben. Aber da habt ihr euch getäuscht.
Denn wir haben auch unseren Nationalstolz. Ihr könnt
mit uns nicht machen, was ihr wollt. Wir sind nicht mehr eure
Kolonie. Ihr denkt wohl, wir brauchen euch, weil ihr Geld
habt. Aber wir brauchen euch nicht. Wir können euch alle
des Landes verweisen. Hauptsächlich die Schweine, die
nur in unser Land kommen,weil sie uns ficken wollen. Nur deshalb
kommt ihr, ihr Schweine. Schweine seid ihr, Schweine."
Nun war der ältere Herr
möglicherweise auf der Suche nach einem kleinen sexuellen
Abenteuer, aber er war sicherlich kein ProstituiertenSchänder.
Und er war ob des Aufsehens um seine Person schon ganz nervös.
So klar war sie also doch noch
im Kopf, daß es ein Schwacher war, den sie sich ausgesucht
hatte, um auf jemanden mit Worten einzuprügeln.
Ein Starker hätte gesagt,
sie solle die Schnauze halten; der ältere Herr aber war
verstört, und er sagte: "Es tut mir leid, mein Fräulein."
"Es tut Ihnen leid, es
tut Ihnen leid. Tun Sie nicht so scheinheilig. Sie glauben
wohl, wenn Sie nett zu mir sind, und wenn Sie mir 500 Peso
geben, komme ich mit Ihnen ins Hotel. Nein, nein, mich kriegen
Sie nicht."
"Es war nicht meine Absicht,"
sagte der ältere Herr.
"Es war nicht Ihre Absicht.
Es war nicht Ihre Absicht. Warum sind Sie dann überhaupt
hierher gekommen? Warum sind Sie überhaupt in Manila?
Warum bleiben Sie nicht in ihrem eigenen Land und nehmen sich
dort eine Prostituierte? Ihre eigenen Frauen sind Ihnen wohl
zu schade. Aber wir sind Ihnen nicht zu schade. Mit uns kann
man es ja machen. Wir sind ja nur Dreck. Und Sie sind die
Herren, weil Sie Geld haben. Das denken Sie. Aber da haben
Sie sich getäuscht. Sie kriegen hier mit Ihrem Geld überhaupt
nichts!"
Dann drehte sie sich um zu den
anderen Tischen und zu den Fastfood-Buden, wo die anderen
alten Nutten saßen, und dann rief sie triumphierend:
"Stimmt's? Der alte Sack kann uns mit seinem Geld nicht
korrumpieren. Der kann noch so viel auf den Tisch legen, und
keine geht mit ihm mit. Wir haben nämlich auch unsere
Ehre. Unseren Nationalstolz haben wir."
Mit dieser Behauptung lag dieses
erbärmliche Weib aber völlig daneben. Der ältere
Herr hätte natürlich jede haben können, die
gerade frei war. Hundert Peso für eine von diesen Nutten
hätten gelangt, und weitere zweihundert hätte er
einkalkulieren müssen, um den Tripper wieder loszuwerden.
Niemand nahm sie ernst. Von
Solidarität und von Ehre konnte nicht die Rede sein.
Andere Nutten bemühten sich schon, Nutzen aus dem lächerlichen
Verhalten ihrer Kollegin zu ziehen. Sie bedeuteten dem älteren
Herren mit Handzeichen, daß die, die immer noch vor
ihm stand, einen Vogel habe, und sie winkten ihm, er solle
sich doch zu ihnen setzen.
Der ältere Herr aber war
verstört, und das machte der Verrückten Mut. "Worauf
warten Sie noch?" schrie sie ihn an. Machen Sie, daß
Sie verschwinden. Sie sind hier unerwünscht. Fahren Sie
nach Hause, Sie Schwein."
Dann nahm sie sein Glas Limonade
und kippte es auf dem Boden aus. Damit machte sie sich zunächst
den Fastfood-Betreiber zum Feind. Denn sie konnte zwar schimpfen,
was sie wollte; aber sich an Waren vergreifen, das ging nicht.
Es kam also ein Kellner und
der fing an, sie ganz sachte zur Straße zu schieben.
Das wollte sie sich aber offenbar nicht gefallen lassen, und
sie schimpfte jetzt auf den Kellner ein. "Du bist ein
Verräter, du bist mit dem Feind im Bunde. Nur weil es
Leute wie dich gibt, können die Fremden uns ausbeuten.
Ein Kollaborateur bist du, ein Kollaborateur."
Ein Barangay-Polizist kam dazu,
einer dieser Laien-Ordnungshüter, von denen es in jedem
Häuserblock ein paar gab. Es war ein kleiner, fetter
Kerl um die Vierzig. Im Bewußtsein seiner Autorität
wollte er für Ruhe sorgen, und er faßte die Verrückte
zunächst am Arm, um sie auf die Straße zu führen.
Als sie sich aber wehrte, zerrte er sie einfach an den Haaren
weg von den Fastfood-Buden. Die Kolleginnen klatschten.
Raymonds Fastfood
Es war später Nachmittag,
und es war nicht mehr sengend heiß. Die Sonne stand
tief, und es war ein Licht für scharfe Konturen. Cal
Dewey und Steffen Mock saßen an einer dieser Fastfood-Buden
in der Del Pilar Street, die parallel zum Roxas Boulevard
verlief, und von der Manila Bay blies ein leichter
Wind. Es war der 21. Mai 1983, der Tag, bevor Mock sich in
seinem Hotelzimmer in Manila mit einer Überdosis Schlaftabletten
das Leben nahm.