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"Taxi, Sir?"
Die Tür der Mabini Mansion
bewachte ein Securitas. Der untersetzte, aber stämmige
Mann in blauer Uniform hielt Dewey und Alice die Tür
auf. Dewey hatte ihm einmal ein Trinkgeld gegeben. Es war
nur soviel gewesen, daß es für eine Schachtel Zigaretten
gereicht hatte, aber dafür machte der oft die Tür
auf.
Weil sie in Begleitung Deweys
kam, war der Securitas auch höflich zu Alice -
obwohl sie nur eine Prostituierte war. Prostituierte waren
in der Mabini Mansion so alltäglich wie Touristen
und es gab noch lange keine Verpflichtung, dem Securitas
ein Trinkgeld zu geben, nur weil ein Tourist Besuch von
Prostituierten empfing.
Als Cal Dewey auf die Straße
trat, war es, als stieße er auf eine Wand aus Licht,
Hitze, Lärm und Abgas.
"Taxi, Sir?".
Der Lärm und die Hitze
waren drückend und das Licht der Sonne war unbarmherzig,
und zusammen war es eine Strafe. Cal Dewey war nicht der Tropen
wegen in einem tropischen Land. Dewey, 34, war Journalist,
aber es war auch keine journalistische Mission.
Dewey und Alice gingen auf
die andere Seite der Mabini Street. Vor dem hohen Gebäude
der United Coconut Planters Bank lungerten Leute herum.
Manche saßen auf einem kleinen Mäuerchen vor der
Fassade. Ein Zeitungsverkäufer hatte noch Exemplare vom
Morgen vor sich auf dem Gehsteig liegen. Jeder kleine Stapel
war mit einem Stein beschwert.
Dewey und Alice waren auf dem
Weg zur Juanito Bar, und da hatten sie zunächst
die United Nations Avenue zu überqueren, die auch nur
eine ganz normale Straße war.
Die Banken und Bürohochhäuser
hatten dann ein Ende, und es kamen kleinere Gebäude mit
Souvenirläden, Reisebüros, Restaurants und Bars.
Ein junger Mann kam ihnen entgegen, und er wich nicht aus,
sondern steuerte direkt auf Dewey zu.
"Geldwechsel?" fragte
er Dewey und zog verstohlen ein dickes Bündel mit 100-Peso-Noten
aus der Hosentasche. Das ganze dicke Bündel entsprach
vielleicht gerade hundert Dollar. Der Peso war nichts mehr
wert. Wer etwa ein altes Auto kaufen wollte, brauchte einen
Handkoffer, um die Geldscheine zu transportieren.
"Ich gebe Ihnen einen besonders
guten Kurs," sagte der junge Mann. Dewey mußte
ihn anrempeln um vorbeizukommen.
Sie marschierten die Mabini
Street hinunter zur Juanito Bar, und das ging nicht,
ohne daß Dewey alle zehn Meter angehauen wurde. Der
eine wollte Geld wechseln, der nächste Zigaretten verkaufen,
einer bot am hellichten Tag eine Sex-Lifeshow an, einer brachte
zur Mittagszeit die Abendzeitung, und dann gab es die bettelnden
Kinder.
Ein kleiner Bub kam auf Dewey
zu, vielleicht drei, mit einer großen, verkrusteten
Wunde am Kopf, und bis auf ein T-Shirt nackt. Die Augen waren
groß und traurig, und er schaute mit ihnen an Dewey
hoch und sagte: "Piso, Piso, Piso."
Als Dewey nicht reagierte, zupfte
ihn der Kleine am Hosenbein und er ließ das Hosenbein
erst los, als Dewey so tat, als würde er zu einem Schlag
ausholen.
Die Mutter wohnte ein paar Schritte
weiter auf dem Bürgersteig. Zur Familie gehörte
noch ein Mädchen, das vielleicht ein Jahr älter
war als der Bub. Sie hausten auf ein paar ausgebreiteten Pappkartons.
Zwei Blechnäpfe standen herum, einer halbvoll mit Reis.
Gemüseabfälle lagen neben diesem Lager, und man
sah gelben Kinderkot. Das kleine Mädchen schlief, ebenfalls
nur mit einem zerlumpten T-Shirt bekleidet, obszön breitbeinig
auf einem Pappdeckel.
Die Mutter streckte Dewey eine
Hand entgegen. Er gab ihr nichts.
Warum sollte er Geld verschenken.
Er gab Bettlern nie etwas, auch und schon gar nicht den Kindern.
Ohnehin, sagte er zu sich selbst, tut man diesen verwahrlosten
Kindern nicht wirklich einen Gefallen, wenn man ihnen Geld
gibt. Denn natürlich kassieren die Eltern. Für die
Eltern sind nur verwahrloste oder kranke oder sogar verkrüppelte
Kinder ein Geschäft. Mit denen haben die Touristen Mitleid,
denen geben sie Geld.
Dumm waren die Eltern nicht.
Wenn sie den Kindern etwas zum Anziehen kauften, oder wenn
sie eine Krankheit behandeln ließen, machten sie sich
nur ihre Einnahmequelle kaputt. Es waren wüste Geschichten
im Umlauf. Kinder mit Augenkrankheiten sollten eine besonders
gute Investition abgeben, denn die sahen besonders schön
scheußlich aus.
Doch eigentlich war es nicht
soziales Verantwortungsgefühl, weshalb Cal Dewey niemals
Bettlern etwas gab. Eigentlich war er nur geizig - schlicht
und einfach. Aber es traf sich gut, daß er seinem eigenen
Gewissen, und jedem, der sich dafür interessierte, seinen
Geiz als 'soziales Verantwortungsbewußtsein auf höherer
Ebene' verkaufen konnte.
Juanito Bar. Der Name
war Juanito Bar, weil der Besitzer Johannes Ett hieß.
Es war eine sehr schmale Bar; sie war nur so breit wie Tür
und Fenster an der Straße, und es gab innen gerade Platz
für eine lange Theke und eine Reihe Hocker. Die Tür
war aus dunklem Glas und das Fenster war rot angestrichen
und in einem Halbkreis mit Juanito Bar beschriftet.
Rot war auch innen die beherrschende
Farbe. Es gab einen abgelaufenen roten Teppichboden und die
Wand am Gang war mit rotem Samt bezogen. Eine Spiegelwand
hinter der Theke schaffte einen künstlichen Raumeindruck.
Es war eine Bar wie die meisten in Ermita, nur kleiner.
Als Cal und Alice die Bar betraten,
saß nahe beim Eingang ein etwa 25jähriger Tourist
mit kurzen Haaren und Brille. Er aß Spiegeleier und
trank Kaffee und unterhielt sich auf deutsch mit Johannes
Ett, der neben ihm saß.
Johannes Ett war Schweizer und
schon seit Jahren in Manila. Er war groß, aber er hatte
einen merkwürdig kleinen Kopf, und sein Gesicht hatte,
obwohl er nicht älter als Vierzig war, tiefe Backenfurchen.
"Ich stelle mir das großartig
vor, die ganze Zeit in Manila. Ich habe nur drei Wochen,"
sagte der Tourist.
"Warum großartig?"
fragte Johannes Ett.
"Ach ja, die vielen Weiber
die ganze Zeit."
"Die gehen dir mit der
Zeit auf die Nerven."
"Das sagst du. Weil du
immer hier bist. Aber wenn du aus Europa kommst, ist es eine
Wohltat," sagte der Tourist.
In der Tiefe der Bar saß
Toni Gräf. Er hatte ein Frühstück bestellt,
und es wurde ihm gerade von einer jungen Frau gebracht. Sie
hatte ein ebenmäßiges Gesicht, aber einen etwas
zu molligen Körper. Sie war sehr vorsichtig beim Servieren.
Toni Gräf war Ende Dreißig
und selbst seit einiger Zeit in Manila. Er frühstückte
fast täglich im Juanito. Gräf wunderte sich
über die Geduld, die Johannes Ett für manche Gäste
aufbrachte. Er selbst vermied Gespräche mit Touristen.
Sie verliefen immer gleich. Man wurde ausgefragt und dann
nicht einmal zu einer Tasse Kaffee eingeladen.
Dewey und Gräf grüßten
sich nur mit einem Kopfnicken.
"Eine mitgenommen?"
fragte Dewey. Er bestellte ein Frühstück.
"Heute Nacht schon rausgeworfen,"
antwortete Toni. Er schüttelte dabei den Kopf.
"Dummes Weib?" fragte
Dewey.
"Unmöglich."
Die Frau mit den vorsichtigen
Bewegungen brachte den Kaffee für Dewey. Alice fragte
nach Reis und einem philippinischen Gericht. Das gab es nicht
im Juanito. Sie bestellte schließlich nur Kaffee.
Der Tourist fragte Johannes
Ett: "Was hat dich denn die Einrichtung der Bar gekostet?"
"Ich hab sie für fünfzigtausend
gekauft."
"Peso oder Franken?"
"Peso," sagte Ett.
"Das ist ja billig,"
wunderte sich der Tourist, "das ist ja wirklich billig.
Das sind ja nicht mal zehntausend Franken."
"Das ist hier ein Haufen
Geld," entschuldigte sich Johannes Ett.
"Das könnte ich mir
sogar leisten," sagte der Tourist.
Ett wunderte sich über
den Lidschlag des jungen Mannes. Er schien nicht automatisch
vor sich zu gehen; jeder Lidschlag war ein bewußtes
Unterfangen. Vielleicht zwinkerte der Tourist ihm absichtlich
zu, dachte Ett; vielleicht, weil ihm das Thema anzüglich
erschien. Es schien, als wolle er mit dem Zwinkern sagen:
wir verstehen uns schon.
Aber das Thema war ja nicht
obszön. Trotzdem kniff sein Gesprächspartner drei,
vier Mal in der Minute die Augen zusammen.
"Was verdient man denn
mit so einer Bar?" fragte der Tourist.
"Wenn ich ehrlich bin:
gar nichts," sagte Ett.
"Das kann doch gar nicht
sein. Da muß man doch was mit verdienen." Jetzt
war das Zwinkern empört.
"Man kann zufrieden sein,
wenn man mit so einer Bar keine Verluste macht."
"Und von was lebst du dann,"
fragte der Tourist. Er war mit seinem Frühstück
fertig, und erst jetzt zündete sich Ett eine Zigarette
an.
"Hat sie Ärger gemacht?"
fragte Dewey.
Toni sagte: "Die ganze
Nacht vom Geld geredet. Ihr Vater habe sich ein Bein gebrochen,
und die Mutter sei herzkrank und die Familie habe kein Geld
für Arzneien. Nur deshalb sei sie mitgekommen. Waren
wir im Bett, ging schon die Fragerei los: bist du fertig,
bist du fertig? Als ich fertig war, hab ich sie rausgeworfen."
"Gezahlt?" fragte
Cal.
Alice lehnte sich an seine Schulter.
Das war nicht Zärtlichkeit, sondern Ungeduld.
"Hundert," sagte Toni.
"Ich geh nach Hause,"
sagte Alice.
"War sie zufrieden?"
fragte Cal.
Toni sagte: "Gemeckert."
"Und?"
"Ihr Preis sei fünfhundert."
"Verrückt." sagte
Dewey.
"Heh Cal, ich geh jetzt,"
sagte Alice. Diesmal lehnte sie sich nicht nur an Dewey an.
Diesmal war es schon ein sanfter Stoß mit der Schulter.
Der Tourist fragte Johannes
Ett: "Wieviel Weiber hast du denn hier am Abend?"
"Keine."
"Keine?" Da war wieder
das Zwinkern.
"Ich beschäftige keine
Prostituierten."
"Dann wundert es mich aber
nicht, daß du keinen Profit machst mit der Bar."
Jetzt kniff der Tourist nicht nur die Augen zusammen, sondern
er rümpfte auch noch die Nase. Dann rief er nach der
Bedienung mit den vorsichtigen Bewegungen. "Check."
Auf einem kleinen Tablett bekam
er die Rechnung vorgelegt. Sie lautete auf 14 Peso. Das war
genau das, was es Johannes Ett selbst kostete, da war kein
Centavo dran verdient.
Der Tourist bezahlte mit einer
20-Peso-Note. Er fragte Ett: "Wo gibt es denn die besten
Weiber, deiner Meinung nach?"
"Na, überall,"
sagte Ett, "überall, in jeder Bar."
Die Bedienung brachte das kleine
Tablett mit dem Wechselgeld zurück. Sie begann mit dem
Abräumen. Mit vorsichtigen Bewegungen stellte sie das
Geschirr aufeinander.
Auf dem kleinen Tablett lagen
eine 5-Peso-Note und eine Peso-Münze. Der Tourist ließ
nicht einmal die Münze liegen. Er stand auf und sagte:
"Bis morgen."
Ett hob nur leicht den Kopf.
Dann ging er an Dewey, Gräf und Alice vorbei nach hinten
in die Küche. Er dachte: die Leute geben ihr Geld nur
für die Weiber aus. Wo man sich Weiber kaufen kann, sind
die Leute geizig.
"Mandel," sagte Dewey.
Die Tür war geöffnet worden, und Mandel kam herein.
"Den hat's wieder erwischt.
Der kommt frisch vom Arzt," sagte Toni.
Mandel war der älteste
von ihnen. Er war 52, und sein ständig wehmütiger
Gesichtsausdruck reizte Dewey zu Scherzen.
"Das kommt davon, wenn
man immer nur die Schönsten mitnimmt," sagte Dewey.
Und Toni: "Die haben die
meisten Kunden. Da bist du am Abend vielleicht schon der dritte."
Mandel setzte sich auf einen
Barhocker. Er bestellte Kaffee.
"Dich kosten die Ärzte
mehr als die Frauen," sagte Dewey.
"Hör bloß auf,"
sagte Mandel.
"Vor fünfzig Jahren
wärst du mit einem Tripper noch wochenlang im Krankenhaus
gelegen," sagte Toni.
"Da gab es noch einen Grund
für die Moral," fügte Dewey hinzu.
Alice sagte: "Ich gehe
jetzt."
Dewey gab ihr 150 Peso. Es war
eine violette und eine rote Note.
"Ruf mich an," sagte
Dewey zu Alice.
Sie steckte das Geld ein und
sie nahm auch gleich die Zigaretten mit, die auf der Theke
lagen. Es waren Gräfs.
"Die ruft dich nicht an,"
sagte Mandel.
"Egal," sagte Dewey.
Toni fragte: "Kommt ihr
mit nach Binondo?"
"Ich geh zurück ins
Hotel, hab wenig geschlafen," sagte Dewey.
"Mir kannst du mit den
Puffs gestohlen bleiben," sagte Mandel.
Die Juanito Bar
Es war der 17. Mai 1983 und
es herrschte Mittagshitze in Manila. Trotz der hohen Gebäude
auf beiden Seiten gab es keinen Schatten in der Mabini Street.
Die Luft flimmerte und alles wirkte langsam. Vor der Mabini
Mansion hockten auf Treppenstufen die Taxifahrer. Wenn
Touristen aus dem Hotel kamen, hoben sie einen Arm und schüttelten
Ihren Schlüsselbund.