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Die Juanito Bar

Es war der 17. Mai 1983 und es herrschte Mittagshitze in Manila. Trotz der hohen Gebäude auf beiden Seiten gab es keinen Schatten in der Mabini Street. Die Luft flimmerte und alles wirkte langsam. Vor der Mabini Mansion hockten auf Treppenstufen die Taxifahrer. Wenn Touristen aus dem Hotel kamen, hoben sie einen Arm und schüttelten Ihren Schlüsselbund.

"Taxi, Sir?"

Die Tür der Mabini Mansion bewachte ein Securitas. Der untersetzte, aber stämmige Mann in blauer Uniform hielt Dewey und Alice die Tür auf. Dewey hatte ihm einmal ein Trinkgeld gegeben. Es war nur soviel gewesen, daß es für eine Schachtel Zigaretten gereicht hatte, aber dafür machte der oft die Tür auf.

Weil sie in Begleitung Deweys kam, war der Securitas auch höflich zu Alice - obwohl sie nur eine Prostituierte war. Prostituierte waren in der Mabini Mansion so alltäglich wie Touristen und es gab noch lange keine Verpflichtung, dem Securitas ein Trinkgeld zu geben, nur weil ein Tourist Besuch von Prostituierten empfing.

Als Cal Dewey auf die Straße trat, war es, als stieße er auf eine Wand aus Licht, Hitze, Lärm und Abgas.

"Taxi, Sir?".

Der Lärm und die Hitze waren drückend und das Licht der Sonne war unbarmherzig, und zusammen war es eine Strafe. Cal Dewey war nicht der Tropen wegen in einem tropischen Land. Dewey, 34, war Journalist, aber es war auch keine journalistische Mission.

Dewey und Alice gingen auf die andere Seite der Mabini Street. Vor dem hohen Gebäude der United Coconut Planters Bank lungerten Leute herum. Manche saßen auf einem kleinen Mäuerchen vor der Fassade. Ein Zeitungsverkäufer hatte noch Exemplare vom Morgen vor sich auf dem Gehsteig liegen. Jeder kleine Stapel war mit einem Stein beschwert.

Dewey und Alice waren auf dem Weg zur Juanito Bar, und da hatten sie zunächst die United Nations Avenue zu überqueren, die auch nur eine ganz normale Straße war.

Die Banken und Bürohochhäuser hatten dann ein Ende, und es kamen kleinere Gebäude mit Souvenirläden, Reisebüros, Restaurants und Bars. Ein junger Mann kam ihnen entgegen, und er wich nicht aus, sondern steuerte direkt auf Dewey zu.

"Geldwechsel?" fragte er Dewey und zog verstohlen ein dickes Bündel mit 100-Peso-Noten aus der Hosentasche. Das ganze dicke Bündel entsprach vielleicht gerade hundert Dollar. Der Peso war nichts mehr wert. Wer etwa ein altes Auto kaufen wollte, brauchte einen Handkoffer, um die Geldscheine zu transportieren.

"Ich gebe Ihnen einen besonders guten Kurs," sagte der junge Mann. Dewey mußte ihn anrempeln um vorbeizukommen.

Sie marschierten die Mabini Street hinunter zur Juanito Bar, und das ging nicht, ohne daß Dewey alle zehn Meter angehauen wurde. Der eine wollte Geld wechseln, der nächste Zigaretten verkaufen, einer bot am hellichten Tag eine Sex-Lifeshow an, einer brachte zur Mittagszeit die Abendzeitung, und dann gab es die bettelnden Kinder.

Ein kleiner Bub kam auf Dewey zu, vielleicht drei, mit einer großen, verkrusteten Wunde am Kopf, und bis auf ein T-Shirt nackt. Die Augen waren groß und traurig, und er schaute mit ihnen an Dewey hoch und sagte: "Piso, Piso, Piso."

Als Dewey nicht reagierte, zupfte ihn der Kleine am Hosenbein und er ließ das Hosenbein erst los, als Dewey so tat, als würde er zu einem Schlag ausholen.

Die Mutter wohnte ein paar Schritte weiter auf dem Bürgersteig. Zur Familie gehörte noch ein Mädchen, das vielleicht ein Jahr älter war als der Bub. Sie hausten auf ein paar ausgebreiteten Pappkartons. Zwei Blechnäpfe standen herum, einer halbvoll mit Reis. Gemüseabfälle lagen neben diesem Lager, und man sah gelben Kinderkot. Das kleine Mädchen schlief, ebenfalls nur mit einem zerlumpten T-Shirt bekleidet, obszön breitbeinig auf einem Pappdeckel.

Die Mutter streckte Dewey eine Hand entgegen. Er gab ihr nichts.

Warum sollte er Geld verschenken. Er gab Bettlern nie etwas, auch und schon gar nicht den Kindern. Ohnehin, sagte er zu sich selbst, tut man diesen verwahrlosten Kindern nicht wirklich einen Gefallen, wenn man ihnen Geld gibt. Denn natürlich kassieren die Eltern. Für die Eltern sind nur verwahrloste oder kranke oder sogar verkrüppelte Kinder ein Geschäft. Mit denen haben die Touristen Mitleid, denen geben sie Geld.

Dumm waren die Eltern nicht. Wenn sie den Kindern etwas zum Anziehen kauften, oder wenn sie eine Krankheit behandeln ließen, machten sie sich nur ihre Einnahmequelle kaputt. Es waren wüste Geschichten im Umlauf. Kinder mit Augenkrankheiten sollten eine besonders gute Investition abgeben, denn die sahen besonders schön scheußlich aus.

Doch eigentlich war es nicht soziales Verantwortungsgefühl, weshalb Cal Dewey niemals Bettlern etwas gab. Eigentlich war er nur geizig - schlicht und einfach. Aber es traf sich gut, daß er seinem eigenen Gewissen, und jedem, der sich dafür interessierte, seinen Geiz als 'soziales Verantwortungsbewußtsein auf höherer Ebene' verkaufen konnte.

Juanito Bar. Der Name war Juanito Bar, weil der Besitzer Johannes Ett hieß. Es war eine sehr schmale Bar; sie war nur so breit wie Tür und Fenster an der Straße, und es gab innen gerade Platz für eine lange Theke und eine Reihe Hocker. Die Tür war aus dunklem Glas und das Fenster war rot angestrichen und in einem Halbkreis mit Juanito Bar beschriftet.

Rot war auch innen die beherrschende Farbe. Es gab einen abgelaufenen roten Teppichboden und die Wand am Gang war mit rotem Samt bezogen. Eine Spiegelwand hinter der Theke schaffte einen künstlichen Raumeindruck. Es war eine Bar wie die meisten in Ermita, nur kleiner.

Als Cal und Alice die Bar betraten, saß nahe beim Eingang ein etwa 25jähriger Tourist mit kurzen Haaren und Brille. Er aß Spiegeleier und trank Kaffee und unterhielt sich auf deutsch mit Johannes Ett, der neben ihm saß.

Johannes Ett war Schweizer und schon seit Jahren in Manila. Er war groß, aber er hatte einen merkwürdig kleinen Kopf, und sein Gesicht hatte, obwohl er nicht älter als Vierzig war, tiefe Backenfurchen.

"Ich stelle mir das großartig vor, die ganze Zeit in Manila. Ich habe nur drei Wochen," sagte der Tourist.

"Warum großartig?" fragte Johannes Ett.

"Ach ja, die vielen Weiber die ganze Zeit."

"Die gehen dir mit der Zeit auf die Nerven."

"Das sagst du. Weil du immer hier bist. Aber wenn du aus Europa kommst, ist es eine Wohltat," sagte der Tourist.

In der Tiefe der Bar saß Toni Gräf. Er hatte ein Frühstück bestellt, und es wurde ihm gerade von einer jungen Frau gebracht. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht, aber einen etwas zu molligen Körper. Sie war sehr vorsichtig beim Servieren.

Toni Gräf war Ende Dreißig und selbst seit einiger Zeit in Manila. Er frühstückte fast täglich im Juanito. Gräf wunderte sich über die Geduld, die Johannes Ett für manche Gäste aufbrachte. Er selbst vermied Gespräche mit Touristen. Sie verliefen immer gleich. Man wurde ausgefragt und dann nicht einmal zu einer Tasse Kaffee eingeladen.

Dewey und Gräf grüßten sich nur mit einem Kopfnicken.

"Eine mitgenommen?" fragte Dewey. Er bestellte ein Frühstück.

"Heute Nacht schon rausgeworfen," antwortete Toni. Er schüttelte dabei den Kopf.

"Dummes Weib?" fragte Dewey.

"Unmöglich."

Die Frau mit den vorsichtigen Bewegungen brachte den Kaffee für Dewey. Alice fragte nach Reis und einem philippinischen Gericht. Das gab es nicht im Juanito. Sie bestellte schließlich nur Kaffee.

Der Tourist fragte Johannes Ett: "Was hat dich denn die Einrichtung der Bar gekostet?"

"Ich hab sie für fünfzigtausend gekauft."

"Peso oder Franken?"

"Peso," sagte Ett.

"Das ist ja billig," wunderte sich der Tourist, "das ist ja wirklich billig. Das sind ja nicht mal zehntausend Franken."

"Das ist hier ein Haufen Geld," entschuldigte sich Johannes Ett.

"Das könnte ich mir sogar leisten," sagte der Tourist.

Ett wunderte sich über den Lidschlag des jungen Mannes. Er schien nicht automatisch vor sich zu gehen; jeder Lidschlag war ein bewußtes Unterfangen. Vielleicht zwinkerte der Tourist ihm absichtlich zu, dachte Ett; vielleicht, weil ihm das Thema anzüglich erschien. Es schien, als wolle er mit dem Zwinkern sagen: wir verstehen uns schon.

Aber das Thema war ja nicht obszön. Trotzdem kniff sein Gesprächspartner drei, vier Mal in der Minute die Augen zusammen.

"Was verdient man denn mit so einer Bar?" fragte der Tourist.

"Wenn ich ehrlich bin: gar nichts," sagte Ett.

"Das kann doch gar nicht sein. Da muß man doch was mit verdienen." Jetzt war das Zwinkern empört.

"Man kann zufrieden sein, wenn man mit so einer Bar keine Verluste macht."

"Und von was lebst du dann," fragte der Tourist. Er war mit seinem Frühstück fertig, und erst jetzt zündete sich Ett eine Zigarette an.

"Hat sie Ärger gemacht?" fragte Dewey.

Toni sagte: "Die ganze Nacht vom Geld geredet. Ihr Vater habe sich ein Bein gebrochen, und die Mutter sei herzkrank und die Familie habe kein Geld für Arzneien. Nur deshalb sei sie mitgekommen. Waren wir im Bett, ging schon die Fragerei los: bist du fertig, bist du fertig? Als ich fertig war, hab ich sie rausgeworfen."

"Gezahlt?" fragte Cal.

Alice lehnte sich an seine Schulter. Das war nicht Zärtlichkeit, sondern Ungeduld.

"Hundert," sagte Toni.

"Ich geh nach Hause," sagte Alice.

"War sie zufrieden?" fragte Cal.

Toni sagte: "Gemeckert."

"Und?"

"Ihr Preis sei fünfhundert."

"Verrückt." sagte Dewey.

"Heh Cal, ich geh jetzt," sagte Alice. Diesmal lehnte sie sich nicht nur an Dewey an. Diesmal war es schon ein sanfter Stoß mit der Schulter.

Der Tourist fragte Johannes Ett: "Wieviel Weiber hast du denn hier am Abend?"

"Keine."

"Keine?" Da war wieder das Zwinkern.

"Ich beschäftige keine Prostituierten."

"Dann wundert es mich aber nicht, daß du keinen Profit machst mit der Bar." Jetzt kniff der Tourist nicht nur die Augen zusammen, sondern er rümpfte auch noch die Nase. Dann rief er nach der Bedienung mit den vorsichtigen Bewegungen. "Check."

Auf einem kleinen Tablett bekam er die Rechnung vorgelegt. Sie lautete auf 14 Peso. Das war genau das, was es Johannes Ett selbst kostete, da war kein Centavo dran verdient.

Der Tourist bezahlte mit einer 20-Peso-Note. Er fragte Ett: "Wo gibt es denn die besten Weiber, deiner Meinung nach?"

"Na, überall," sagte Ett, "überall, in jeder Bar."

Die Bedienung brachte das kleine Tablett mit dem Wechselgeld zurück. Sie begann mit dem Abräumen. Mit vorsichtigen Bewegungen stellte sie das Geschirr aufeinander.

Auf dem kleinen Tablett lagen eine 5-Peso-Note und eine Peso-Münze. Der Tourist ließ nicht einmal die Münze liegen. Er stand auf und sagte: "Bis morgen."

Ett hob nur leicht den Kopf. Dann ging er an Dewey, Gräf und Alice vorbei nach hinten in die Küche. Er dachte: die Leute geben ihr Geld nur für die Weiber aus. Wo man sich Weiber kaufen kann, sind die Leute geizig.

"Mandel," sagte Dewey. Die Tür war geöffnet worden, und Mandel kam herein.

"Den hat's wieder erwischt. Der kommt frisch vom Arzt," sagte Toni.

Mandel war der älteste von ihnen. Er war 52, und sein ständig wehmütiger Gesichtsausdruck reizte Dewey zu Scherzen.

"Das kommt davon, wenn man immer nur die Schönsten mitnimmt," sagte Dewey.

Und Toni: "Die haben die meisten Kunden. Da bist du am Abend vielleicht schon der dritte."

Mandel setzte sich auf einen Barhocker. Er bestellte Kaffee.

"Dich kosten die Ärzte mehr als die Frauen," sagte Dewey.

"Hör bloß auf," sagte Mandel.

"Vor fünfzig Jahren wärst du mit einem Tripper noch wochenlang im Krankenhaus gelegen," sagte Toni.

"Da gab es noch einen Grund für die Moral," fügte Dewey hinzu.

Alice sagte: "Ich gehe jetzt."

Dewey gab ihr 150 Peso. Es war eine violette und eine rote Note.

"Ruf mich an," sagte Dewey zu Alice.

Sie steckte das Geld ein und sie nahm auch gleich die Zigaretten mit, die auf der Theke lagen. Es waren Gräfs.

"Die ruft dich nicht an," sagte Mandel.

"Egal," sagte Dewey.

Toni fragte: "Kommt ihr mit nach Binondo?"

"Ich geh zurück ins Hotel, hab wenig geschlafen," sagte Dewey.

"Mir kannst du mit den Puffs gestohlen bleiben," sagte Mandel.