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"Geduld, mein Freund,"
hatte Jarek immer wieder gesagt. Das war schon Spott, aber
es war keineswegs alles, was Dewey über sich ergehen
lassen mußte. Cinda neckte ihn jeden Morgen: noch fünf,
noch vier, noch drei Tage, dann ist Linda keine Jungfrau mehr,
na-na, na-na, na-na!"
Daß Linda ihre Unschuld
verlieren würde, darum drehte sich immer mehr das Gespräch.
Die stämmige Mutter sagte: "Das fehlt ihr nämlich
schon lange, dann hat sie andere Sachen im Kopf als immer
nur arbeiten."
Linda blühte in den Tagen
vor der Hochzeit richtig auf, und Dewey wirkte zunehmend geknickt.
"Geduld, mein Freund,"
sagte Jarek immer wieder.
Linda war noch fleißiger
als sonst. Sie pflegte die Gemüsebeete, verteilte die
Arbeit an die Burschen, und machte nacheinander in allen Gebäuden
Großputz. Ihre Helfer kamen ganz außer Atem.
Dewey dagegen war Spaziergänger
auf Jareks Land. Manchmal folgte er Linda zu ihren Tätigkeiten.
Immer unterbrach sie ihre Arbeit, wenn er in ihrer Nähe
stand. Immer war sie etwas verschwitzt, denn sie arbeitete
schnell, aber sie machte so gar keinen erschöpften Eindruck,
sondern wirkte eher begeistert. Ihre Arbeit war ein Tanzen,
ein Fest; sie war mitten drin und dachte nicht ans Ende.
Dewey betrachtete sie mit Begierde,
wenn sie ihre Arbeit unterbrach und ihm gegenüberstand:
ihre fraulichen Hüften, ihr wunderbares Becken, ihre
schmalen Schultern. Seine Phantasie beschäftigte sich
damit, wie ihr Körper wohl aussehen mochte, wenn er nicht
vom Kleid umhüllt war. Sie waren so überhaupt nicht
miteinander vertraut, wenige Tage vor ihrer Hochzeit. Und
Dewey fiel nichts besseres ein, als höflich zu seiner
künftigen Frau zu sein.
Sie wurden in der Kapelle getraut,
die eiligst verputzt und hellblau gestrichen worden war. Es
herrschte schöner Sonnenschein und sie gingen zu Fuß.
Linda, die Unberührte, trug ein weißes, einfaches
Kleid. Jarek und eine Cousine Lindas mit Namen Arlene waren
die Trauzeugen. Rosita war ganz stolz, denn nun sollte es
ihr schon zum zweiten Mal gelingen, eine Tochter mit einem
Mann aus Übersee zu verheiraten. Sie hatte in ihrem Leben
wirklich ihre Schuldigkeit getan.
Eine ganze Schar Kinder folgte
ihnen in die Kapelle, und diesmal waren sie nicht halbnackt.
Die Kapelle, in der Padre Flores gewöhnlich am Sonntag
um 11 Uhr eine Messe hielt, und die unter der Woche als Lagerschuppen
diente, war an diesem Samstagvormittag mit Blumen geschmückt.
Linda selbst hatte dies veranlaßt.
Padre Sebastian Flores verspätete
sich um eine halbe Stunde, so daß die Zeremonie erst
um 9.30 Uhr beginnen konnte. Er sah ganz hochwürdig aus
in seinem weißen Meßgewand und seinem bestickten
Latz. Vor der eigentlichen Prozedur sang man "Lobpreiset
den Herren..." Sie knieten auf kleinen Schemeln, und
der Priester befahl: " ...so antworte mit JA."
Wie jeden Menschen in dieser
Situation durchzuckte auch Dewey der Gedanke NEIN zu sagen.
Nach der Aufforderung des Priesters
besiegelten sie den Bund fürs Leben mit einem bescheidenen
Kuß. Schließlich legte ihnen Padre Flores die
Hand aufs Haupt und sprach: "Der Herr segne Euch und
sei mit Euch..."
Die gutherzige Rosita brach
in Tränen aus und umarmte ihre frisch vermählte
Tochter, und auch Dewey wurde an den dicken Busen seiner Schwiegermutter
gedrückt. Auf dem Rückweg zu Jareks Anwesen streuten
Kinder Blumen auf den Weg, und wenn Braut und Bräutigam
vorbeigegangen waren, wurden die Blümchen wieder aufgehoben,
schnell nach vorn gebracht und mit liebevoller Geste wieder
ausgestreut.
Zu Hause wurde ein Schwein zubereitet,
das man dezenterweise getötet hatte, während Cal
und Linda in der Kapelle waren. Linda konnte es nicht lassen,
auch an diesem ihrem Ehrentag nicht, selbst in der Küche
zu helfen.
Nachbarn kamen vorbei, weniger
des Gratulierens wegen, als vielmehr, um das Hochzeitsmahl
nicht zu verpassen. Viel Volk traf ein, das nicht eingeladen
worden war, und aus der weiteren Umgebung kamen entfernte
Verwandte Lindas, die auch irgendwie von der Hochzeit Wind
bekommen hatten.
Nur einmal am späten Vormittag
waren Cal und Linda für einen Moment allein. Sie begegneten
sich in Lindas Zimmer, das Cal jetzt mitbewohnen durfte, und
Sie standen sich einen Augenblick ganz nah gegenüber
und schauten sich in die Augen. Lindas Gesicht wurde ernst.
Dann faßte Cal seine Ehefrau mit einer Hand unter dem
Kinn und mit einem Arm um die Schulter. Linda legte ihren
Kopf in den Nacken und Cal beugte sich über sie. Es war
feierlich, und Linda schloß die Augen. Als sich ihre
Lippen berührten, war Lindas Mund kühl und ihre
Zunge unbewegt. Für sie war es das erste Mal, und weil
in ihrem Leben so viele Jahre vergangen waren, in denen ihr
dies gebührt hätte, war es bedeutungsvoll. Als sich
ihre Lippen schon gelöst hatten, blieben sie noch lange
Sekunden unbewegt stehen.
Das Festessen fand im Garten
unter Bananenpalmen statt. Es gab längst nicht genug
Tische und Stühle, und es fehlte auch an Geschirr. An
Tischen saß nur die engere Familie, und den besten Platz
bekam Hochwürden. Die Kinder aßen von Bananenblättern,
und ein paar Nachbarn standen abseits und warteten, bis die
Reste der Mahlzeit vom Tisch getragen wurden, um sich an diesen
sattzuessen.
Es war ein üppiges Mahl,
und da es erst gegen 2 Uhr nachmittags fertig war, und bis
dahin alle einen rechten Hunger gehabt hatten, schlug man
sich mit Freude den Bauch voll. Danach war das Volk träge.
Die Nachbarn, die zufriedengestellt waren, verließen
nach und nach Jareks Besitz. Hochwürden hielt ein Schläfchen,
und er war nicht der einzige.
Rosita dagegen fand keine Ruhe.
Sie berichtete ein paar Tanten Begebenheiten aus dem Eheleben
von Cinda und Jarek, und sie erzählte immer wieder voller
Begeisterung, wie schnell doch alles mit Linda und Cal gegangen
sei.
Linda kümmerte sich um
dies und jenes. Sie führte Verwandte, die selten zu Besuch
kamen, durch das Grundstück und zeigte ihnen die Fortschritte
in der Gärtnerei. Cal wurde, wie schon in den vergangenen
Tagen, von leichtem Mißmut befallen. Onkels, die er
nicht kannte, fragten ihn nach seinen Zukunftsplänen
aus. Unter all den Leuten kamen er und Linda sich wieder nicht
näher - obwohl doch jetzt das Hindernis eines fehlenden
Trauscheins beseitigt worden war.
Gegen fünf Uhr gab es Kaffee
und Kuchen. Man traf sich in kleiner Runde an den Tischen
im Garten, und auch Hochwürden war rechtzeitig wieder
aufgewacht. Die meisten Neuigkeiten aus der vergangenen Zeit
waren inzwischen erzählt, und es drehten sich die Gespräche
eher um Kommendes.
Der Einbruch der Dunkelheit
wurde nun allgemein erwartet. Alle hatten an der Vorfreude
teil. Was Cal und Linda nachher machen würden, war völlig
sanktioniert. Man konnte offen darüber reden. Sogar in
Anwesenheit von Padre Flores.
"Bist du nervös deswegen?"
fragte Arlene, die noch nicht verheiratet war.
"So etwas Besonderes ist
es gar nicht," sagte eine andere Cousine, die neben ihrem
Ehemann saß.
"Stimmt’s?" fragte
sie diesen und stieß ihn mit dem Elloogen an.
"Die Ausländer sollen
aber so große Dinger haben," sagte ein Onkel.
"So etwa," sagte er,
und er umfaßte mit einer Hand ein Armgelenk.
Das löste Heiterkeit an
den Tischen aus.
"Heh, Cinda," rief
ein anderer Onkel im Lachen; "wie groß ist denn
das Ding von Sam?"
"Ach, ganz klein,"
sagte Cinda.
Das glaubten wenige.
"Warum habt ihr denn noch
keine Kinder?" fragte eine Tante.
"Vielleicht wissen die
gar nicht, wie man das macht," sagte ein Onkel.
"Aber du, du weißt
es," sagte die Tante, die mit dem Onkel verheiratet war.
"Es sind eben nicht alle
Männer so wie ihr," sagte eine andere Tante, "es
gibt eben auch feine Menschen."
"Die müssen auch,"
sagte der Onkel.
"Nehmt doch etwas Rücksicht
auf Hochwürden," sagte die Tante.
"Gott hat Verständnis
für die Schwächen der Menschen," sagte der
Padre, der es ja wissen mußte.
"Linda, freust du dich
schon?" fragte die Großmutter, eine kleine dürre
Frau mit faltigem Gesicht und zahnlosem Mund. Man sah es ihr
an, daß ihr das Thema Spaß machte.
"Du würdest dich bestimmt
freuen, wenn er dich geheiratet hätte," sagte der
Großvater.
"Natürlich, ein hübscher
junger Mann," sagte die Oma, und sie hatte den Mund weit
offen.
Alles freute sich über
das Thema, über die ehrliche Großmutter, über
ihr zahnloses Lachen. Hochwürden lächelte in Gottes
Auftrag verständnisvoll.
"Das ist hier so,"
sagte Jarek zu Dewey. Zu den anderen Leuten sagte er: "Mein
Freund ist schon ganz ungeduldig. Die ganze Woche schon. Der
freut sich auf den Hintern von Linda."
Alle freuten sich mit ihm. Die
Oma stand auf und wiegte sich in den Hüften und schnalzte
mit der Zunge.
"Heh, die Oma," sagte
ein Knabe, der 13 oder 14 Jahre alt sein mochte.
"Du weißt ja gar
nicht, um was es geht," sagte Cinda herablassend zu ihm.
"Weiß ich wohl,"
sagte der Knabe.
"So, um was denn, bitte,"
stichelte Cinda.
"Küßchen. Küßchen."
"Ätsch, eber nicht,"
antwortete Cinda.
"Und wann heiraten Fredo
und Boy?" fragte Jarek. Fredo und Boy waren Angestellte,
beide um die Zwanzig.
"Die sind doch schon ein
Paar," warf Rosita ein.
"Die machen’s mit der Hand,"
rief der Knabe, und er machte eine ausladende Handbewegung
in der Luft, so als massiere er ein überdimensionales
Glied. Damit hatte er seine Kennerschaft nun endgültig
bewiesen.
"Du Schwein," schrie
ihn Cinda an.
"Dummkopf," sagte
Rosita.
Zu Padre Flores sagte sie: "Entschuldigen
Sie den Bengel, Hochwürden."
"Gott hat für alle
Verständnis," sagte der Padre und lächelte
verlegen.
"Die sind alle dumm,"
sagte Linda zu Cal, denn sie schämte sich wegen ihrer
Familie und den Bekannten.
"Hoch soll es leben, das
Paar, dreimal hoch." rief die Großmutter.
"Das Paar soll sich küssen,"
forderte eine Tante auf.
"Los, küßt euch,"
forderten auch andere Gäste.
"Stellt euch nicht so an,"
sagte Rosita, "ihr seid ja jetzt verheiratet. Da dürft
ihr alles machen."
"Alles machen," echote
der Knabe.
Cal gab Linda einen flüchtigen
Kuß auf die Backe.
Es ging noch eine Weile so weiter,
und dann stellte man augenzwinkernd fest, daß das Paar
müde sei. Es war ja inzwischen dunkel geworden. Rosita
bereitete den beiden das Bett für die Hochzeitsnacht
vor. Als Cal und Linda die Runde verließen, rief man
ihnen "Viel Spaß" und "Treibt es nicht
zu bunt" hinterher, doch beschränkte sich die Respektlosigkeit
auf Verbales und es folgte ihnen niemand ins Haus, um sie
vor der Schlafzimmertür anzufeuern.
Da waren sie nun allein im Zimmer
und das erste Mal ungestört.
"Und nun?" fragte
Linda.
"Nun sind wir verheiratet,"
sagte Cal.
Das Bett stand im Zimmer wie
ein flacher Altar. Es war ein strahlend weißes Leintuch,
das Rosita ihnen gerichtet hatte. Hier nun sollte sich die
blutige Szene einer Entjungferung ereignen.
Als Cal ihr das Kleid abstreifte,
zitterte Linda. Sie war ein ängstliches Opfertier. Ihre
Unterwäsche war zartgelb und hatte eine weiße Borte.
"Ich liebe dich,"
sagte sie plötzlich. Es klang wie ein Fluchtversuch.
"Ich liebe dich auch,"
fügte Cal mechanisch hinzu.
"Mach doch das Licht bitte
aus," sagte Linda.
Aber Cal wollte es mit den Augen
erleben, weil das Sehen besser zu erinnern war als das Fühlen.
Es befiel Cal die tiefe Nüchternheit
eines routinierten Pfarrers, der eine Messe hält, die
Nüchternheit eines geübten Chirurgen bei einer Operation.
Es war eine Nüchternheit, die sich direkt aus der Trauer,
aus der Reue, aus der Angst des Opfertieres, des Patienten
ableitete.
Linda hatte kleine, spitze Brüste,
und die Haut ihres Körpers war hell. Ihre Scham war nur
leicht behaart und die Schamlippen waren rot. Cal war nicht
im Rausch, und es wurde kein heftiger Liebesakt, sondern halb
ein Zeremoniell und halb eine gynäkologische Operation.
Linda machte leichte Versuche,
es abzuwehren, aber Cal versicherte ihr mit ruhiger Stimme
und ohne Zärtlichkeit, daß es geschehen müsse.
Es war eine Entjungferung mehr im Sitzen als im Liegen und
es mußte Linda wohl wehtun, denn sie biß sich
auf die Lippen.
"Ich liebe dich,"
sagte er nachher ihr zum Gefallen.
Vor dem Haus gingen die Gäste
über zur Musik. Ein jeder mußte ein Lied singen,
gleichgültig, wieviel Zähne er oder sie im Mund
hatte. Je älter die Leute waren, desto ungenierter die
Gesangsdarbietung. Nur die Kinder waren zaghaft.
Die Hochzeit
Die Hochzeit fand am 15. Oktober
1983 statt. Es war widersinnig und paßte so gar nicht
in die Zeit, aber: sie hatten sich bis dahin noch nicht einmal
geküßt. Sie durften nebeneinander sitzen, auf einer
Bank bei den Mahlzeiten, und Dewey machte zaghafte Versuche,
seinen Arm um Lindas Schultern zu legen. Es war gerade so
viel, wie er wagen durfte.