HOME


Die Hochzeit

Die Hochzeit fand am 15. Oktober 1983 statt. Es war widersinnig und paßte so gar nicht in die Zeit, aber: sie hatten sich bis dahin noch nicht einmal geküßt. Sie durften nebeneinander sitzen, auf einer Bank bei den Mahlzeiten, und Dewey machte zaghafte Versuche, seinen Arm um Lindas Schultern zu legen. Es war gerade so viel, wie er wagen durfte.

"Geduld, mein Freund," hatte Jarek immer wieder gesagt. Das war schon Spott, aber es war keineswegs alles, was Dewey über sich ergehen lassen mußte. Cinda neckte ihn jeden Morgen: noch fünf, noch vier, noch drei Tage, dann ist Linda keine Jungfrau mehr, na-na, na-na, na-na!"

Daß Linda ihre Unschuld verlieren würde, darum drehte sich immer mehr das Gespräch. Die stämmige Mutter sagte: "Das fehlt ihr nämlich schon lange, dann hat sie andere Sachen im Kopf als immer nur arbeiten."

Linda blühte in den Tagen vor der Hochzeit richtig auf, und Dewey wirkte zunehmend geknickt.

"Geduld, mein Freund," sagte Jarek immer wieder.

Linda war noch fleißiger als sonst. Sie pflegte die Gemüsebeete, verteilte die Arbeit an die Burschen, und machte nacheinander in allen Gebäuden Großputz. Ihre Helfer kamen ganz außer Atem.

Dewey dagegen war Spaziergänger auf Jareks Land. Manchmal folgte er Linda zu ihren Tätigkeiten. Immer unterbrach sie ihre Arbeit, wenn er in ihrer Nähe stand. Immer war sie etwas verschwitzt, denn sie arbeitete schnell, aber sie machte so gar keinen erschöpften Eindruck, sondern wirkte eher begeistert. Ihre Arbeit war ein Tanzen, ein Fest; sie war mitten drin und dachte nicht ans Ende.

Dewey betrachtete sie mit Begierde, wenn sie ihre Arbeit unterbrach und ihm gegenüberstand: ihre fraulichen Hüften, ihr wunderbares Becken, ihre schmalen Schultern. Seine Phantasie beschäftigte sich damit, wie ihr Körper wohl aussehen mochte, wenn er nicht vom Kleid umhüllt war. Sie waren so überhaupt nicht miteinander vertraut, wenige Tage vor ihrer Hochzeit. Und Dewey fiel nichts besseres ein, als höflich zu seiner künftigen Frau zu sein.

Sie wurden in der Kapelle getraut, die eiligst verputzt und hellblau gestrichen worden war. Es herrschte schöner Sonnenschein und sie gingen zu Fuß. Linda, die Unberührte, trug ein weißes, einfaches Kleid. Jarek und eine Cousine Lindas mit Namen Arlene waren die Trauzeugen. Rosita war ganz stolz, denn nun sollte es ihr schon zum zweiten Mal gelingen, eine Tochter mit einem Mann aus Übersee zu verheiraten. Sie hatte in ihrem Leben wirklich ihre Schuldigkeit getan.

Eine ganze Schar Kinder folgte ihnen in die Kapelle, und diesmal waren sie nicht halbnackt. Die Kapelle, in der Padre Flores gewöhnlich am Sonntag um 11 Uhr eine Messe hielt, und die unter der Woche als Lagerschuppen diente, war an diesem Samstagvormittag mit Blumen geschmückt. Linda selbst hatte dies veranlaßt.

Padre Sebastian Flores verspätete sich um eine halbe Stunde, so daß die Zeremonie erst um 9.30 Uhr beginnen konnte. Er sah ganz hochwürdig aus in seinem weißen Meßgewand und seinem bestickten Latz. Vor der eigentlichen Prozedur sang man "Lobpreiset den Herren..." Sie knieten auf kleinen Schemeln, und der Priester befahl: " ...so antworte mit JA."

Wie jeden Menschen in dieser Situation durchzuckte auch Dewey der Gedanke NEIN zu sagen.

Nach der Aufforderung des Priesters besiegelten sie den Bund fürs Leben mit einem bescheidenen Kuß. Schließlich legte ihnen Padre Flores die Hand aufs Haupt und sprach: "Der Herr segne Euch und sei mit Euch..."

Die gutherzige Rosita brach in Tränen aus und umarmte ihre frisch vermählte Tochter, und auch Dewey wurde an den dicken Busen seiner Schwiegermutter gedrückt. Auf dem Rückweg zu Jareks Anwesen streuten Kinder Blumen auf den Weg, und wenn Braut und Bräutigam vorbeigegangen waren, wurden die Blümchen wieder aufgehoben, schnell nach vorn gebracht und mit liebevoller Geste wieder ausgestreut.

Zu Hause wurde ein Schwein zubereitet, das man dezenterweise getötet hatte, während Cal und Linda in der Kapelle waren. Linda konnte es nicht lassen, auch an diesem ihrem Ehrentag nicht, selbst in der Küche zu helfen.

Nachbarn kamen vorbei, weniger des Gratulierens wegen, als vielmehr, um das Hochzeitsmahl nicht zu verpassen. Viel Volk traf ein, das nicht eingeladen worden war, und aus der weiteren Umgebung kamen entfernte Verwandte Lindas, die auch irgendwie von der Hochzeit Wind bekommen hatten.

Nur einmal am späten Vormittag waren Cal und Linda für einen Moment allein. Sie begegneten sich in Lindas Zimmer, das Cal jetzt mitbewohnen durfte, und Sie standen sich einen Augenblick ganz nah gegenüber und schauten sich in die Augen. Lindas Gesicht wurde ernst. Dann faßte Cal seine Ehefrau mit einer Hand unter dem Kinn und mit einem Arm um die Schulter. Linda legte ihren Kopf in den Nacken und Cal beugte sich über sie. Es war feierlich, und Linda schloß die Augen. Als sich ihre Lippen berührten, war Lindas Mund kühl und ihre Zunge unbewegt. Für sie war es das erste Mal, und weil in ihrem Leben so viele Jahre vergangen waren, in denen ihr dies gebührt hätte, war es bedeutungsvoll. Als sich ihre Lippen schon gelöst hatten, blieben sie noch lange Sekunden unbewegt stehen.

Das Festessen fand im Garten unter Bananenpalmen statt. Es gab längst nicht genug Tische und Stühle, und es fehlte auch an Geschirr. An Tischen saß nur die engere Familie, und den besten Platz bekam Hochwürden. Die Kinder aßen von Bananenblättern, und ein paar Nachbarn standen abseits und warteten, bis die Reste der Mahlzeit vom Tisch getragen wurden, um sich an diesen sattzuessen.

Es war ein üppiges Mahl, und da es erst gegen 2 Uhr nachmittags fertig war, und bis dahin alle einen rechten Hunger gehabt hatten, schlug man sich mit Freude den Bauch voll. Danach war das Volk träge. Die Nachbarn, die zufriedengestellt waren, verließen nach und nach Jareks Besitz. Hochwürden hielt ein Schläfchen, und er war nicht der einzige.

Rosita dagegen fand keine Ruhe. Sie berichtete ein paar Tanten Begebenheiten aus dem Eheleben von Cinda und Jarek, und sie erzählte immer wieder voller Begeisterung, wie schnell doch alles mit Linda und Cal gegangen sei.

Linda kümmerte sich um dies und jenes. Sie führte Verwandte, die selten zu Besuch kamen, durch das Grundstück und zeigte ihnen die Fortschritte in der Gärtnerei. Cal wurde, wie schon in den vergangenen Tagen, von leichtem Mißmut befallen. Onkels, die er nicht kannte, fragten ihn nach seinen Zukunftsplänen aus. Unter all den Leuten kamen er und Linda sich wieder nicht näher - obwohl doch jetzt das Hindernis eines fehlenden Trauscheins beseitigt worden war.

Gegen fünf Uhr gab es Kaffee und Kuchen. Man traf sich in kleiner Runde an den Tischen im Garten, und auch Hochwürden war rechtzeitig wieder aufgewacht. Die meisten Neuigkeiten aus der vergangenen Zeit waren inzwischen erzählt, und es drehten sich die Gespräche eher um Kommendes.

Der Einbruch der Dunkelheit wurde nun allgemein erwartet. Alle hatten an der Vorfreude teil. Was Cal und Linda nachher machen würden, war völlig sanktioniert. Man konnte offen darüber reden. Sogar in Anwesenheit von Padre Flores.

"Bist du nervös deswegen?" fragte Arlene, die noch nicht verheiratet war.

"So etwas Besonderes ist es gar nicht," sagte eine andere Cousine, die neben ihrem Ehemann saß.

"Stimmt’s?" fragte sie diesen und stieß ihn mit dem Elloogen an.

"Die Ausländer sollen aber so große Dinger haben," sagte ein Onkel.

"So etwa," sagte er, und er umfaßte mit einer Hand ein Armgelenk.

Das löste Heiterkeit an den Tischen aus.

"Heh, Cinda," rief ein anderer Onkel im Lachen; "wie groß ist denn das Ding von Sam?"

"Ach, ganz klein," sagte Cinda.

Das glaubten wenige.

"Warum habt ihr denn noch keine Kinder?" fragte eine Tante.

"Vielleicht wissen die gar nicht, wie man das macht," sagte ein Onkel.

"Aber du, du weißt es," sagte die Tante, die mit dem Onkel verheiratet war.

"Es sind eben nicht alle Männer so wie ihr," sagte eine andere Tante, "es gibt eben auch feine Menschen."

"Die müssen auch," sagte der Onkel.

"Nehmt doch etwas Rücksicht auf Hochwürden," sagte die Tante.

"Gott hat Verständnis für die Schwächen der Menschen," sagte der Padre, der es ja wissen mußte.

"Linda, freust du dich schon?" fragte die Großmutter, eine kleine dürre Frau mit faltigem Gesicht und zahnlosem Mund. Man sah es ihr an, daß ihr das Thema Spaß machte.

"Du würdest dich bestimmt freuen, wenn er dich geheiratet hätte," sagte der Großvater.

"Natürlich, ein hübscher junger Mann," sagte die Oma, und sie hatte den Mund weit offen.

Alles freute sich über das Thema, über die ehrliche Großmutter, über ihr zahnloses Lachen. Hochwürden lächelte in Gottes Auftrag verständnisvoll.

"Das ist hier so," sagte Jarek zu Dewey. Zu den anderen Leuten sagte er: "Mein Freund ist schon ganz ungeduldig. Die ganze Woche schon. Der freut sich auf den Hintern von Linda."

Alle freuten sich mit ihm. Die Oma stand auf und wiegte sich in den Hüften und schnalzte mit der Zunge.

"Heh, die Oma," sagte ein Knabe, der 13 oder 14 Jahre alt sein mochte.

"Du weißt ja gar nicht, um was es geht," sagte Cinda herablassend zu ihm.

"Weiß ich wohl," sagte der Knabe.

"So, um was denn, bitte," stichelte Cinda.

"Küßchen. Küßchen."

"Ätsch, eber nicht," antwortete Cinda.

"Und wann heiraten Fredo und Boy?" fragte Jarek. Fredo und Boy waren Angestellte, beide um die Zwanzig.

"Die sind doch schon ein Paar," warf Rosita ein.

"Die machen’s mit der Hand," rief der Knabe, und er machte eine ausladende Handbewegung in der Luft, so als massiere er ein überdimensionales Glied. Damit hatte er seine Kennerschaft nun endgültig bewiesen.

"Du Schwein," schrie ihn Cinda an.

"Dummkopf," sagte Rosita.

Zu Padre Flores sagte sie: "Entschuldigen Sie den Bengel, Hochwürden."

"Gott hat für alle Verständnis," sagte der Padre und lächelte verlegen.

"Die sind alle dumm," sagte Linda zu Cal, denn sie schämte sich wegen ihrer Familie und den Bekannten.

"Hoch soll es leben, das Paar, dreimal hoch." rief die Großmutter.

"Das Paar soll sich küssen," forderte eine Tante auf.

"Los, küßt euch," forderten auch andere Gäste.

"Stellt euch nicht so an," sagte Rosita, "ihr seid ja jetzt verheiratet. Da dürft ihr alles machen."

"Alles machen," echote der Knabe.

Cal gab Linda einen flüchtigen Kuß auf die Backe.

Es ging noch eine Weile so weiter, und dann stellte man augenzwinkernd fest, daß das Paar müde sei. Es war ja inzwischen dunkel geworden. Rosita bereitete den beiden das Bett für die Hochzeitsnacht vor. Als Cal und Linda die Runde verließen, rief man ihnen "Viel Spaß" und "Treibt es nicht zu bunt" hinterher, doch beschränkte sich die Respektlosigkeit auf Verbales und es folgte ihnen niemand ins Haus, um sie vor der Schlafzimmertür anzufeuern.

Da waren sie nun allein im Zimmer und das erste Mal ungestört.

"Und nun?" fragte Linda.

"Nun sind wir verheiratet," sagte Cal.

Das Bett stand im Zimmer wie ein flacher Altar. Es war ein strahlend weißes Leintuch, das Rosita ihnen gerichtet hatte. Hier nun sollte sich die blutige Szene einer Entjungferung ereignen.

Als Cal ihr das Kleid abstreifte, zitterte Linda. Sie war ein ängstliches Opfertier. Ihre Unterwäsche war zartgelb und hatte eine weiße Borte.

"Ich liebe dich," sagte sie plötzlich. Es klang wie ein Fluchtversuch.

"Ich liebe dich auch," fügte Cal mechanisch hinzu.

"Mach doch das Licht bitte aus," sagte Linda.

Aber Cal wollte es mit den Augen erleben, weil das Sehen besser zu erinnern war als das Fühlen.

Es befiel Cal die tiefe Nüchternheit eines routinierten Pfarrers, der eine Messe hält, die Nüchternheit eines geübten Chirurgen bei einer Operation. Es war eine Nüchternheit, die sich direkt aus der Trauer, aus der Reue, aus der Angst des Opfertieres, des Patienten ableitete.

Linda hatte kleine, spitze Brüste, und die Haut ihres Körpers war hell. Ihre Scham war nur leicht behaart und die Schamlippen waren rot. Cal war nicht im Rausch, und es wurde kein heftiger Liebesakt, sondern halb ein Zeremoniell und halb eine gynäkologische Operation.

Linda machte leichte Versuche, es abzuwehren, aber Cal versicherte ihr mit ruhiger Stimme und ohne Zärtlichkeit, daß es geschehen müsse. Es war eine Entjungferung mehr im Sitzen als im Liegen und es mußte Linda wohl wehtun, denn sie biß sich auf die Lippen.

"Ich liebe dich," sagte er nachher ihr zum Gefallen.

Vor dem Haus gingen die Gäste über zur Musik. Ein jeder mußte ein Lied singen, gleichgültig, wieviel Zähne er oder sie im Mund hatte. Je älter die Leute waren, desto ungenierter die Gesangsdarbietung. Nur die Kinder waren zaghaft.