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Noch bevor es bekannt wurde,
gegen 4 Uhr morgens, kam Vera ins Volksgefängnis, wo
Marc und Manuel die Nachtwache hielten. Vera sagte: "Man
hat Sie zum Tode verurteilt."
Dewey, der an seinen Polsterstuhl
gekettet war und in dieser unbequemen Haltung geschlafen hatte,
war sich zunächst nicht sicher, ob er nur träumte.
Doch leider gab es kein klärendes Erwachen.
Dewey sagte: "Man hat mich
zum Tode verurteilt. Das sagen Sie so einfach daher. Und mit
welcher Begründung? Darf ich das auch erfahren?"
"Wegen imperialistischer
Verbrechen," sagte Vera.
"Wegen imperialistischer
Verbrechen. Das ist doch nur ein Vorwand für eine Geiselerschießung.
Mord ist das, ganz billiger, gemeiner Mord."
Marc sagte: "Regen Sie
sich nicht auf."
"So - nicht aufregen soll
ich mich. Da soll man erschossen werden, und dann darf man
sich nicht einmal aufregen. Feine Gesellen sind Sie."
Dann wurde Dewey von Manuel
von diesem Sitzmöbel losgekettet, und es wurden ihm die
Arme mit Handschellen auf den Rücken gebunden, er wurde
geknebelt und man verband ihm die Augen. Er wurde Treppen
hinuntergeleitet und im Kofferraum eines Autos verstaut, und
dann kamen 20 Minuten Fahrt.
Als der Kofferraum geöffnet
und Dewey die Augenbinde und der Knebel abgenommen wurde,
befanden sie sich wieder in den Müllgründen, in
eben jenem Krater, in dem Dewey vor acht Tagen in die Holzkiste
verladen worden war. Es war ein strahlend schöner Morgen,
und die Sonne war gerade glühend über der Stadt
aufgegangen, und Glas und Blech glänzten im hellen Licht,
und die Luft war klar, weil es noch nicht warm war, und Rauchfahnen
stiegen in die Höhe, wie von Lagerfeuern in der Wildnis.
Es war ein Morgen, den man genießen
sollte - mit einem schönen Frühstück auf einer
Terrasse und einer guten Tasse Kaffee Und statt dessen sollte
er nun, auf nüchternen Magen, hingerichtet werden.
"Sie machen einen Fehler,"
sagte Dewey.
"Ich teile Ihre Ansichten;
ich bin einer Ihrer Gesinnungsgenossen."
"Dann wissen Sie ja, daß
Sie für eine gute Sache sterben," sagte Marc.
Nun stand er da, in diesem Müllkrater,
und er wurde von Marc festgehalten, und Manuel, der seine
Sonnenbrllle trug und sehr modisch aussah im schönen
Morgenlicht, schraubte einen Schalldämpfer auf seine
Pistole und legte schon mal an.
"Heh, warten Sie,"
sagte Dewey.
"Warten, warum?" fragte
Manuel.
"Na ja, das können
Sie doch nicht machen. Da einfach abdrücken."
"Nicht? Warum denn nicht?"
"Na, hören Sie mal,
da kommt eine Kugel raus."
"Ja, na und?"
"Ich bin ein Mensch. Verstehen
Sie das nicht. Ich bin ein Mensch," sagte Dewey verzweifelt.
"Ist das etwas Besonderes?"
fragte Manuel.
"Und überhaupt bin
ich gar nicht Oswald Kroll. Ich bin der Falsche. Sie haben
den Falschen entführt. Dewey ist mein Name, Cal Dewey,
ich bin der Falsche, verstehen Sie, haha, der Falsche."
"Na ja," sagte Manuel,
"wenn Sie nicht Oswals Kroll sind - umso besser für
Sie. Freuen Sie sich. Dann sind Sie ja nicht der, der erschossen
wird. Da haben Sie ja nochmal Glück gehabt," meinte
Manuel und grinste.
"Soll das heißen,
Sie lassen mich frei? Sie lassen mich also frei. Ich wußte
es doch, das Sie mich nicht einfach erschießen würden.
Ich hatte schon von Anfang an dieses Gefühl."
Vera fragte: "Sind Sie
religiös?"
"Nein, warum. Religiös
bin ich nicht. Warum?"
"Na ja," sagte Vera,
"Sie möchten vielleicht beten."
"Beten, warum? Ach so,
ein Dankgebet meinen Sie? Weil die Situation so glücklich
ausgegangen ist. Nein, religiös bin ich eigentlich nicht.
Aber wenn Sie es für angemessen halten - natürlich
kann ich beten. Innerlich nur. Einen Text weiß ich nicht."
"Ich meinte, ein letztes
Gebet. Aber da Sie ja nicht religiös sind, braucht es
das wohl nicht," sagte Vera.
"Ein letztes Gebet? Was
soll das nun wieder bedeuten. Ich dachte, Sie lassen mich
frei. Wozu denn dann ein letztes Gebet? Sie haben schon einen
komischen Humor," sagte Dewey.
Vera sagte: "Drehen Sie
sich um. Ich habe keine Lust, in Ihr verwundertes Gesicht
zu schauen. Sie gaffen wirklich zu blöd."
"Umdrehen soll ich mich?
Wozu denn das?"
Vera sagte: "Ja, drehen
Sie sich um. Klettern Sie den Krater hoch. Versuchen Sie davonzurennen."
Dewey sagte: "Ach so, ja,
natürlich, Sie lassen mich ja frei. Entschuldigen Sie,
bin etwas schwer von Begriff, heute morgen. Haha, schlecht
geschlafen, wissen Sie. Morgenmuffel, haha. Sie müssen
schon entschuldigen."
Manuel sagte: "Reden Sie
nicht lange herum. Klettern Sie hoch. Machen Sie schon. Wir
warten nicht ewig."
Dewey drehte sich also um, und
er versuchte, den Rand des Müllkraters zu erklimmen.
Schüsse erklangen, einer, zwei, drei, vier. Dewey mußte
husten und mußte sich übergeben, und er stellte
verwundert fest, daß es Blut war, was er spuckte.
Die Exekution
Es war der 8. Dezember 1983,
ein Donnerstag. An diesem Tag würde bekannt werden, daß
der Entführte nicht Oswald Kroll war. Man hatte dies
in der Bundesrepublik Deutschland anhand eines Fotos festgestellt,
das die Terroristen als Lebenszeichen gesandt hatten.