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Dewey wurde einerseits als Kriegsgefangener,
andererseits als Krimineller aufgefaßt, denn man sah
in ihm einen verbrecherischen Agenten eines imperialistischen
Industriestaates. Auch mit Beteuerungen, ein völlig unpolitischer
Mensch zu sein, der ja schießlich nichts dafür
könne, in Europa und nicht in einem Land der Dritten
Welt geboren zu sein, konnte er seiner Qualifizierung als
Vertreter des Imperialismus und als Klassenfeind nicht engehen.
Man hielt ihm einfach entgegen, daß er, Dewey alias
Kroll, über seine eigene Stellung in der Welt keine Erkenntnis
besitze, ja, nicht einmal besitzen könne, da seine Erkenntnisfähigkeit
von seinen Interessen verschleiert werde. Erkenntnisfähigkeit
sei letztendlich abhängig von der Klassenzugehörigkeit.
"Und was garantiert Ihnen,
daß Ihre Klassenzugehörigkeit Ihnen die richtige
Erkenntnis ermöglicht?" fragte Dewey seine junge
Entführerin, die hier Vera genannt wurde.
Vera sagte: "Wir sind die
Unterdrückten. Wir sind ein unterdrücktes Volk.
Als Unterdrückte sind wir zum richtigen Verstehen prädestiniert,
während Sie auf der Seite der Unterdrücker von der
eigenen Arroganz geblendet werden. Wir haben noch die frische
Erfahrung des Unglücks. Wir wissen von der Ungerechtigkeit
der Welt, und wir erkennen aus unserer Perspektive von unten
die Möglichkeit eines besseren Zusammenlebens der Menschen."
Vera war die einzige der Entführerbande,
die sich auf Gespräche mit Dewey einließ. Der blonde
junge Mann, der mit Vera in den Jeepney gestiegen war, und
der übrigens Marc hieß, war ein völlig verbitterter
Fanatiker. Der andere junge Mann, der das Taxi gefahren hatte,
hieß Manuel. Dieser war ein rechter Laufsteg-Revolutionär,
dem es Spaß machte, mit einer Pistole zu hantieren,
und der stets, am liebsten auch in diesem knapp beleuchteten
Volksgefängnis, seine Sonnenbrille trug.
Es gab noch ein viertes Mitglied
der Bande, das Charlie hieß, ein junger Mann mit kurz
geschorenen Haaren und abstehenden Ohren. Es war kaum vorstellbar,
daß dieser Charlie aus eigenem Antrieb zum Revolutionär
geworden war. Wahrscheinlich war er nur dabei, weil die anderen
zufällig seine Freunde waren. Diese akzeptierten ihn,
weil man auch unter Revolutionären jemanden brauchte,
den man zum Zigarettenholen schicken konnte.
Es fiel Dewey im Laufe seiner
Gefangenschaft auf, daß Vera trotz ihrer Größe
durchaus ihre Reize hatte. Zwar sah sie streng aus, und ihr
Verhalten war, weil sie sich unter diesen widrigen Umständen
kennengelernt hatten, alles andere als dazu angetan, Sympathien
zu wecken. Aber selbst dies trug zu ihrer damenhaften Erscheinung
bei. Vera mochte wohl einsneunzig groß sein. Ihre einzelnen
Körperteile waren, für sich genommen, keineswegs
mager, sie hatte Hintern und Busen; aber weil sie so groß
war, wirkte sie trotzdem schlank.
Meistens trug sie ihr hellbraun/dunkelbraun
gestreiftes Kleid, und sie hatte sich dazu eine Kordel um
die Hüfte gebunden. Sie sah adrett aus, hauptsächlich
wenn sie saß und die Knie seitlich abgewinkelt waren.
Es war auch adrett, wenn sie in der einen Hand die Zigarette
hielt und in der anderen die Pistole, so als sei es ein gewöhnliches
Feuerzeug.
In ihrem Gesicht gefielen Dewey
die hohen Backenknochen. Darüber wirkten ihre chinesischen
Augen katzenartig. Ihr Mund war klein und schmallippig.
"Sie sind sehr attraktiv,"
sagte Dewey.
"Lassen Sie die Scherze,"
sagte die Befreiungskämpferin.
"Warum haben Sie sich nur
auf Politik eingelassen?" fragte Dewey. "Sie haben
das doch gar nicht nötig: mit der Welt so im Gram zu
liegen, daß Sie hier dieses Revolutionsspiel betreiben
müssen. Das macht Sie doch nicht glücklich"
"Auf persönliches
Glück kommt es nicht an," erwiderte Vera.
"Sondern?"
"Die Freiheit meines Volkes,
den Fortschritt der Menschheit."
"Fortschritt wohin?"
"Zur klassenlosen Gesellschaft."
"Und die glauben Sie herbeiführen
zu können?"
"Sle ist eine geschichtliche
Notwendigkeit."
"Warum sollte sie eine
geschichtliche Notwendigkeit sein?" fragte Dewey.
"Bei einem bestimmten Stand
der Produktionsmethoden wird die klassenlose Gesellschaft
zur geschichtlichen Notwendigkeit, so wie vorher bei einem
bestimmten Stand der Produktionsmethoden die bürgerliche
Gesellschaft zur geschichtlichen Notwendigkeit geworden war.
Der Lauf der Geschichte ist nicht aufzuhalten."
"Wenn der Lauf der Geschichte
sowieso nicht aufzuhalten ist, warum lassen Sie die Sache
dann nicht einfach laufen. Wenn die klassenlose Gesellschaft
ohnehin kommt, brauchen Sie ja nicht nachzuhelfen und sich
persönlich in Gefahr zu bringen."
"Als Mitglied der intellektuellen
Avantgarde bin ich ein Wenkzeug der Geschichte."
Nach etwa einer Woche erfuhr
auch Dewey davon, daß die Regierung auf die Forderungen
der Terroristen nicht eingehen würde. Er wandte sich
also an dieses Werkzeug der Geschichte und sagte: "Da
ich der Regierung ja nichts wert bin, nicht einmal fünf
Minuten Sendezeit im Fernsehen, die man für Ihr Manifest
braucht, können Sie mich ja freilassen."
"So einfach wird das nicht
möglich sein," sagte Vera.
"Warum nicht? Ich kann
Ihnen ja nichts mehr nützen."
"Es ist eine Frage des
Prinzips," erklärte Vera.
"Wenn wir jetzt nicht unsere
Drohung wahrmachen, wird man in ähnlichen Situationen
unsere Drohungen nicht mehr ernst nehmen. Es ist wie ein Pokerspiel.
Die Frage ist, wer die besseren Nerven hat."
Marc sagte: "Wir sind entschlossen,
die besseren Nerven zu haben."
"Und was heißt das
für mich, wenn ich fragen darf?" sagte Dewey.
"Na ja, es tut uns leid,"
sagte Vera.
"Heißt das, Sie knallen
mich einfach ab? Sie wollen mich doch nicht umbringen, nur
weil Sie der Regierung beweisen wollen, daß Sie die
besseren Nerven haben. Das ist doch kein Grund, einen Menschen
zu erschießen."
"Sie dürfen sich als
Individuum nicht so wichtig nehmen," empfahl ihm die
junge Frau, die sich selbst nicht als Individuum, sondern
als Werkzeug der Geschichte verstand.
"Was soll das heißen:
ich solle mich als Individuum nicht so wichtig nehmen. Meine
Individualität ist schließlich das einzige, was
ich habe - außer meinem Leben hab ich ja nicht"
"Sie nehmen sich als Individuum
zu wichtig," sagte Vera nochmals. "Ihre Individualität,
Ihre Identität, Ihr Selbst - das sind alles nur Fiktionon.
Was sind Sie schon? Ein paar zusammengebastelte Organe und
ein psychischer Apparat. Ihre Identität ist eine fromme
Illusion, Sie sind nichts als eine Prägung ihrer Umwelt.
Nichts ist Ihr Eigenes. Was Sie denken, was Sie fühlen,
was Sie glücklich macht, Ihr Charakter - das ist alles
nur Umwelt, nur soziale Klasse, die sich auf dem ursprünglich
unbeschriebenen Blatt Ihres Lebens manifestiert."
"Woher mein Ich kommt,
ist mir völlig egal. ich habe es mir ja nicht aussuchen
können, das geben Sie selbst zu. Es ist nun einmal so,
wie es ist. Das ist mir egal. Aber eins ist mir nicht egal.
Ich will nicht sterben. Verstehen Sie das nicht? Ich will
noch nicht sterben."
"Sehen Sie," sagte
Vera, "und das halten Sie nun für etwas Eigenes.
Daß Sie nicht sterben wollen. Aber auch das ist nichts
Eigenes. Das ist einfach etwas, was sich aus Ihrer sozialen
Prägung, aus Ihrer Klasse ergibt. Wenn Sie anders, richtig
erzogen worden wären, dann würden Sie nichts lieber,
als Ihr Leben der Gemeinschaft, dem Sieg der guten Sache opfern."
"Jetzt hören Sie mal,"
sagte Dewey. "Da will ich aber nicht mitspielen, bei
Ihrer schönen Theorie. Ich habe gar keine Lust, mich
überzeugen zu lassen. Das können Sie mir nicht einreden,
daß ich freudig sterben soll. Ihre gute Sache ist mir
wurscht - genauso wurscht wie das, was die Regierung als Ihre
gute Sache ausgibt."
Marc sagte: "Es ist nicht
nötig, daß Sie überzeugt werden."
Das Volksgefängnis
Dewey bekam in dem sogenannten
Volksgefängnis nichts von all dem Geschehen mit, das
sich auf hochpolitischer Ebene wegen seiner Person abspielte.
Die meiste Zeit war er an sein Sitzmöbel gekettet, und
er wurde stets von zweien dieser jungen Revolutionäre
bewacht.